Ich hatte „Sendepause“,

wenn ich das mal so ausdrücken soll. Gesundheitlich  ging es mir ausgesprochen schlecht und so habe ich das gemacht, was ich in diesem Fall immer tue: Viel trinken und schlafen, schlafen, schlafen.

Am Montag der letzten Woche musste ich dann wohl oder übel raus: Mein Männe hatte einen Arzttermin und ich habe ihn mit dem Auto gefahren. Die Alternative für ihn wäre sein Motorrad gewesen. Aber dazu war es einfach viel zu kalt. Also habe ich mir eine Wärmflasche gemacht und mir die auf dem Autositz ins hohle Kreuz gepackt. So waren die immer noch vorhandenen Bauschmerzen recht gut auszuhalten. Auf dem Weg durch die Stadt entdeckte ich plötzlich an einem Abzweig ein kleines braunes Federbällchen, gefährlich nahe am Straßenrand. Also rasch in denSpiegel geschaut, gebremst, raus aus dem Auto und die reglose Flauschkugel eingesammelt. Den hupenden Autofahrern freundlich zugewunken, Wärmflasche zurechtgerückt, Falk den Federball in die Hand gesetzt und weiter. Der kleine Kerl entpuppte sich als recht geschocktes und äußerlich unverletztes Spatzenmännchen, das sich gleich in Falks warme Hände kuschelte.

Ich vermutete einen Anprall an ein Auto mit Gehirnerschütterung, da das Kerlchen gut genährt war und recht stramm wirkte. Eine Krankheit hätte den Spatz sicher abmagern lassen. Während ich vor der Praxis wartete, konnte ich das Vögelchen etwas näher betrachten: Ein hübscher Spätzerich, wohl noch recht jung und der Gefiederzeichnung nach vom letzten Jahr. Seinen Federn und den rauhen Füßchen sah man das sicher nicht einfache Leben in der Stadt an. Ein richtiger kleiner Vagabund, der mich aus unergründlichen dunklen Äuglein ernst und ohne Angst betrachtete.  Leider musste ich plötzlich niesen und das erschreckte ihn so, dass er sich aus meinen Fingern wand und auf den Rücksitz und von da unter den Beifahrersitz sauste. Zum Glück kam Falk da gerade vom Arzt zurück und wir fuhren mit einem gut versteckten kleinen Passagier nach Hause.

Dort konnte ich das Kerlchen rasch unter  dem Sitz orten und mir schnappen, was er mit einem empörten „böööp“ kommentierte. Im Haus kam er in den Gast- und Krankenkäfig, mit weichem Polster und einem leichten Futterangebot samt Wasser. Noch ein Handtuch drüber für die Ruhe und dann mal abwarten.

Natürlich interessierte sich Krümel brennend für den Gast und betrachtete ihn ausgiebig. Dem Kleinen schien es auch bald besser zu gehen, denn er erkundete vorsichtig seine Behausung und nahm sogar etwas Wasser und einige Körnchen auf. Er war, ungewöhnlich für einen Wildspatz, absolut nicht ängstlich. Ich hielt ihm mehrfach meinen Finger hin, in den er, nach jeweils einem ausgesprochen ernsten Blick, heftig hineinbiss.  Er setzte sich im Käfig dann auch an die Stelle „mit Aussicht“ und wollte sich so gar nicht unter das Handtuch zurückziehen. Und es gefiel ihm offensichtlich so gut, daß er sogar sein Köpfchen unter den Flügel steckte und schlief. Da kranke Wildvögel das normalerweise nicht tun, war ich guter Dinge.

Als ich nach einer Weile wieder nach ihm schaute, hüpfte er im Käfig   herum. Allerdings schien ihm das nicht zu bekommen, denn nach einigen Hüpfern schloss er jedes Mal fast gequält die Augen, als ob ihm dabei etwas weh tun würde. Danach blieb er mit geschlossenen Augen eine Weile sitzen und versuchte es dann erneut. Er wirkt wie jemand, der bei Bewegung heftige Kopfweh hatte und einfach seine Ruhe wollte.

Zum Tierarzt wollte ich mit dem Kerlchen nicht, da dies für ihn zusätzlichen Streß bedeutet hätte. Er hätte auch nichts weiter tun können, da solche Unfälle entweder glimpflich ausgehen oder eben nicht. Von leichter Gehirnerschütterung bis zu Gehirnblutungen und Brüchen ist alles möglich. Gebrochen war nichts, also hoffte ich weiterhin auf die Wirkung von Ruhe und Geborgenheit. Ich liess den Kleinen also, beobachtet von Krümel, in Ruhe zurück.

Nachdem ich einige Zeit etwas im Haus erledigt hatte, bekam ich so ein seltsames Gefühl und ging zu meinem Patienten. Der Kleine saß aufrecht, aber mit halb geschlossenen Augen und atmete rasch. Er sah nicht gut aus. Leider merke ich bei meinen Pfleglingen immer intuitiv, wie es um sie steht. Und so nahm ich das Kerlchen unter gutem Zureden aus seiner Box, setzte ihn in meine hohle Hand und wölbte die ander schützend und abdunkelnd über ihn. Er kuschelte sich gleich in meine Handfläche und legte das Schnäbelchen auf meine Finger, um sich abzustützen.

Ich habe ihm dann erklärt, dass er nicht bleiben müsse, wenn er sich so schlecht fühlen würde. „Geh, wenn du musst“ sagte ich, ich halte dich nicht auf. Wieder traf mich dieser ernste, so intelligente Blick aus seinen braunen Äuglein. Er erinnerte mich so sehr an Pilps, daß ich weinen musste. Krümel setzte sich auf meine Schulter und fing ganz behutsam an, mir die Tränen vom Gesicht zu lecken. Sie drückte sich an mein Gesicht und berührte mich immer wieder unendlich sanft mit dem Schnabel. Der kleine Patient schloß langsam die Augen und kuschelte sich noch tiefer in meine Hand. Seine Atemzüge wurden tiefer und ruhiger, die ganze Körperhaltung locker und entspannt, die Füßchen weit geöffnet und warm. So wie Krümel, wenn sie bei mir in ihre Relaxhaltung geht.

Dann drei tiefe, und ruhige Atemzüge und dann nichts mehr. Der Spätzerich war ins Sommerland geflogen. Ganz ohne Angst, ohne Kampf und ohne Gegenwehr war das Kerlchen gegangen. Ich konnte ihn nicht retten, aber er hat seine letzen Stunden in Wärme und Geborgenheit verbracht und konnte seine Reise warm und behütet antreten. Vielleicht hat er geträumt, daß er als Küken im Nest saß?  Ich hoffe, er fliegt da, wo er jetzt ist nach Herzenslust durch den Sommer und singt aus voller Kehle. Wir haben ihn im Garten bei unseren anderen Piep begraben. Falk hat ihn Theodor getauft, damit er nicht namenlos beerdigt wurde.

Machs gut Theodor. Wir kannten dich nur ganz kurz, aber du warst eine einmalige Spatzenpersönlichkeit.

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