Hinausgreifen

Manchmal schaue ich doch noch Fernsehen. Nicht mehr viel, da mich die zum Teil wirklich manipulative und selektive Berichterstattung der Sender regelrecht ankotzt. Die richtig guten, informativen Beiträge sieht man nachts zu „unmöglicher“ Uhrzeit, zumeist auf den dritten Programmen. Gut versteckt und kaum beachtet. Und ab und zu findet man sie dann doch, spannende Reportagen, Portraits von ungewöhnlichen Menschen, Persönlichkeiten eben, deren Leben so gar nichts mit der hochglanz-verblödungs-schickimicki-alles-ist-so-geil Standardware zu tun hat.

Da sitze ich dann und lausche gebannt, sehe Menschen, die ihr Herz auf der Zunge tragen, die ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Ich sehe Freud und Leid und ja, ich freue mich mit und ich habe Mitleid. Ob es um Palliativmedizin geht oder um Frauen wie die „Chemo Chicas“. Ich schaue auf Ausschnitte von Leben, bin zugegeben oft etwas neidisch, auch wenn es diesen Personen oft hundsmiserabel geht. Bei denen ist alles immer so ordentlich, sauber, intakt, trotz ihrer Probleme. Warum könnte es nicht bei mir auch so sein? Oder wenigstens „etwas so“? Dann schäme ich mich sofort, da ich absolut nichts von diesen Menschen weiß, außer dem Wenigen, was mir die Reportage erzählt. Ich vergesse den Neid auf ein möglicherweise wohlgeordnetes Dasein, der perfekt aufgeräumten Wohnung, befasse mich mit den Protagonisten und ihren Schicksalen. Und diese beneide ich nun nicht mehr, ich bewundere sie. Staune, wie sie ihr Schicksal annehmen, mache ihnen insgeheim Komplimente für ihre Ausstrahlung. Und sage vollkommen ehrlich:“ Boah, was für tolle Menschen.“ Umso mehr leide ich dann mit, wenn ich den Fortgang der Schicksale in der Reportage sehe. Und da kommt der Wunsch auf, der aber für immer unerfüllt bleiben wird: Ich möchte hinausgreifen, möchte diese fremden Personen berühren, oder gar in den Arm nehmen und sagen:“ Hier ist jemand, den du nicht kennst, der aber mit dir leidet, Mitleid hat. Dein Schicksal geht mir nahe.“  Ich möchte hinausgreifen und etwas von meinen Gefühlen abgeben, teilen, verschenken.

Ich sitze da vor dem Fernseher, doch meine Rolle bleibt passiv. Ich kann nichts tun, kann nur schauen, lauschen, unbemerkt, unerkannt, anonym. Ob es „denen auf dem Bildschirm“ überhaupt helfen würde, wenn sie wüssten, dass da wer sitzt und Anteil nimmt? Oder sind sie so mit ihrem eigenen Kampf beschäftigt, dass sie nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden können, was die Reportage über sie bei einer Zuschauerin ausgelöst hat? Ich vermute, sie wissen es nicht, es sei denn sie bekämen über den Sender ein „Feedback“. Da könnte ich dann doch, wenn ich wollte, hinausgreifen und mein Mitgefühl kundtun. Einen Moment überlege ich, dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Menschen in dieser Situation noch mit meinen Gefühlen belästigen? Vielleicht fühlt sich dann jemand zu einer höflichen Antwort genötigt, ob wohl er weder die Energie noch den Wunsch hat, mir zu antworten?

So bleibt mir nur, meine volle Aufmerksamkeit auf den Beitrag zu richten und mir letztendlich beschämt einzugestehen, wie kleinlich ich doch manchmal bin. Auf jemanden neidisch zu sein, weil sein Leben so geordnet verläuft, ist ziemlich bescheuert, wenn dieser Mensch gegen den Krebs kämpft. Meine Tante ist an Brustkrebs gestorben, da war sie nur einige Jahre älter als ich es jetzt bin. Und nun frage ich mich, ob ich in dieser Situation auch so stark wäre. Ich weiß es nicht, und ich möchte es auch nie herausfinden müssen. Als die Reportage endet sitze ich schniefend da. Dann schalte ich den Fernseher aus. Jede andere Sendung wäre jetzt einfach unpassend und belanglos. Meine Gedanken sind noch eine ganze Weile bei den gezeigten Personen. Und sie begleiten mich auch noch, als ich ins Bett gehe. Ich weiß nicht, wie das Leben dieser Menschen weiter geht. Aber ich habe einige Sachen kapiert:  Meine „Probleme“ sind winzig gegenüber dem, was andere bewältigen müssen. Es besteht kein Grund, auf jemanden neidisch zu sein. Vor allem nicht, wenn man nicht alle Seiten ausgiebig betrachten kann. Wenn mir etwas an mir nicht gefällt, dann sollte ich es selbst ändern, und nicht rumjammern oder darauf warten, daß ein Wunder geschieht. Und letztendlich sollte ich verdammt nochmal dankbar für das sein, was ich habe, anstatt den Hals nach dem zu recken, was ich unbedingt zu brauchen meine.

Manchmal muss es eben eine Fernsehsendung sein, die einen auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

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