obwohl es doch ein wenig frisch war.
Aber es war trocken und das war die Hauptsache. Unser Ziel lag „irgendwo Richtung Osten“.
Vor einigen Tagen hatte ich von einem alten Friedhof erfahren, der mir sehr interessant erschien. Der Friedhof samt Zufahrt ist nicht näher beschildert, da er einer einzigen Famillie gehört. Ich werde auch keine weitere Ortsbeschreibung angeben, da der Friedhof wohl schon öfters Ziel von Spinnern geworden ist. Zumindest mussten wir diese Schlußfolgerung ziehen, da der wunderschöne alte Metallzaun um das Gelände teilweise mutwillig demoliert worden war. Auch der später hinzugefügte Maschendrahtzaun wies sichtbare Einbruchsspuren auf. An einer Ecke war deutlich zu erkennen, dass sich dort jemand eine dauerhaften Zugang zum Friedhofsgelände geschaffen hat.
Für uns war klar, das wir uns keinesfalls illegal Zutritt verschaffen und uns das Ganze nur von außerhalb aus ansehen würden. Aber wie das nun mal so ist: Wenn man sich etwas sehr wünscht, dann geht es auch in Erfüllung. Und so bekamen wir kurze Zeit später ganz überraschend die Möglichkeit, den Friedhof mit allem gebührenden Respekt und ohne Übertretung von Gesetzen zu betreten.
Ein wunderschönes, parkartiges Gelände mit zwei in den Berg gebauten Grüften. Alte und auch neue Grabsteine mit Vornamen, die man heute so kaum noch kennt. Einige Gräber so mit Moos überwachsen, dass man nichts mehr erkennen kann, einige dagegen frisch bepflanzt. Die Jahreszahlen reichen vom neunzehnten bis ins einundzwanzigste Jahrhundert.
Eine eigenartige Atmosphäre hat dieser private Friedhof. Nicht bedrohlich oder gar gruselig, nein. Aber irgendwie so traurig und verlassen. Da werden die Angehörigen einer einzigen großen Familie seit Generationen dort beigesetzt, und die Geschichte läßt sich fast an den Grabsteinen ablesen. Besonders traurig fand ich den Gedenkstein, der an die vielen im Krieg gefallenen Familienmitglieder erinnerte. Nur eine Familie, aber so viele tote Soldaten. Wie muß es da erst in all den anderen Familien ausgesehen haben?
Wie müssen sich Angehörige dieser Familie fühlen, wenn sie die Gräber auf ihrem Privatfriedhof aufsuchen? So ganz weit ab von Ortschaften und der allgemeinen „Trauerindustrie“? So ganz unbehelligt in ihrer Trauer aber auch ohne Anteilnahme von anderen? Wissen die Lebenden der Familie noch, wer von ihren Ahnen dort unter den vermoosten Grabplatten ruht?
Durch die unterschiedlichen Baustile und Zeiten konnte ich mir gut vorstellen, wie früher bei einer Beisetzung eine schwarze Kutsche vor dem Tor hielt und ernste Personen in altmodischen Gewändern an der Beisetzung teilnahmen. Es war fast so, als könnte man diese Leute noch spüren, wenn sie da so vor den Jahrhunderte alten Gräbern stehen.
Man liest die Inschriften und macht sich Gedanken: Ein kleines Mädchen, ein Jahr und einen Tag nach ihrer Geburt gestorben, mitten in den Kriegsjahren. Ihre junge Mutter, 10 Jahre nach dem Tod des Kindes mit 43 Jahren verstorben. Der Vater? Kein Hinweis, kein Gedenkstein. Gefallen? Vermisst? Oder ein uneheliches Kind? Man überlegt, stellt Vermutungen an, und nimmt dabei Anteil am Schicksal von Menschen, die man nur von den Daten ihrer Grabsteine gerade kennengelernt hat. Und unbewusst formt sich in Gendanken ein Bild von diesen Menschen, wie sie wohl ausgesehen haben könnten.
Die gesamte Anlage wirkt etwas verfallen, obwohl sie offensichtlich sorgfältig gepflegt wird. Der Rasen war frisch gemäht, das Strauchwerk beschnitten, die Kieswege gesäubert. Überall waren Nisthilfen für Vögel angebracht. Einige waren leider durch den Zahn der Zeit morsch geworden und abgefallen, zum Glück ohne belegte Nestchen darin. Überhaupt war dieser Ort mit dem daneben fließenden Bach ein wunderschöner Ort für Tiere. Überal dudelten und piepten keinen Federbälle, im Bach flitzen Forellen und dicke Libellen brummten am Ufer entlang. Auch die Bepflanzung ist wirklich sehenswert: Eine einzelne Fichte mit einem Stammdurchmesser, den man mit 2 Leuten kaum umfassen kann, habe ich andernorts jedenfalls noch nicht gesehen. Wie lange dieser prächtige Baum dort wohl schon steht?
Vor der Abfahrt bewunderten wir noch die kunstvollen Metallarbeiten, die das Friedhofstor und die zum Weg gehörende Brücke zieren. Das war noch echte Handarbeit, als das große Tor in Auftrag gegeben wurde. Wer sich zur damaligen Zeit so einen privatfriedhof mit Grüften und großem Tor errichten konnte, war mit Sicherheit wohlhabend.
Auch wenn wir danach noch einige schöne Plätze anfuhren und unter anderem auf „unserer“ Bank am Frau Holle Teich Rast machten, so ließ uns dieser seltsam stille Ort für den Rest des Tages nicht ganz los. Ich wünsche mir, daß auch alle anderen Besucher diesem Platz mit Respekt begegnen, und sich niemand unerlaubt Einlass verschafft. Man sollte die Ruhe der Verstorbenen und auch die Würde der Angehörigen achten, zumal die Toten dort wohl wirklich eine ewige Ruhestätte haben.